Die meiste Zeit des Jahres ist mein Trauerdrache unter Verschluss. Ab und an knurrt und faucht er aus seiner Tiefe in mein Bewusstsein, wenn ich in meiner Arbeit als Medium an die Grenzen des persönlichen Dramas gerate.
Hoppla, wie kann das sein? Ein Medium trauert? Aber natürlich! Der Kontakt zu unseren Lieben auf der anderen Seite ist uns meist möglich. Wir fühlen, sehen, hören und empfinden sie in ihrer Feinstofflichkeit um uns herum. Aber es ist doch nicht so wie auf der Erde, dass man mal eben zum Handy greift und anrufen kann, um ganz alltägliche Dinge zu bekakeln. Einfach mal shoppen gehen und danach einen Kaffee trinken gehen, um zu quatschen. Es ist das normale, reale Leben, das wir vermissen. Mir wurde von meiner Mutter mal gesagt, dass ich mich nicht beschweren solle. Auf der Erde würde sie altern, würde sich charakterlich und körperlich stark verändern. Man würde sich mit den ganz normalen Gegebenheiten abfinden müssen. Aber so sei sie viel präsenter und wir könnten einen viel intensiveren Kontakt als auf der Erde haben. Vom Prinzip her hat sie ja recht, aber… wie schon gesagt, es sind diese ganz irdischen und realen Dinge, die fehlen.
Und an den besonderen Tagen im Kalender wie Geburtstage und Todestage kommt mein persönlicher Trauerdrache aus seinem Versteck und wütet vor sich hin. Früher habe ich hilflos versucht meiner Trauer Herr zu werden und irgendwie damit klar zu kommen. Dieses „Irgendwie“ war für meine Umgebung äußerst belastend und ich hatte das Gefühl ganz in meiner Trauer gefangen zu sein. Es war wie ein Irrgarten aus dem es keinen Ausgang gab.
Ich habe jetzt 24 Jahre Zeit gehabt, um meinen persönlichen Trauerdrachen kennenzulernen. Ich habe gelernt ihn zu zähmen, in dem ich nicht mehr gegen meine Trauer ankämpfe, sondern mit der Welle des Schmerzes gehe.
Mir wurde klar, dass es ein natürlicher Prozess ist, der uns mit der Endgültigkeit und Unabänderlichkeit konfrontiert. Es ist wie eine Grenze, die man übertreten hat, wenn man einen geliebten Menschen oder ein Tier gehen lassen musste. Etwas Neues beginnt, was man überhaupt nicht vorhersehen kann, weil die Leben nun in eine unbekannte neue Zukunft aufbrechen und sich alles in Änderung befindet. Wertesysteme und bereits Bekanntes, Vertrautes, ändern sich. Man selbst verändert sich. Man kann sich auf diesen Schmerz nicht vorbereiten. Er kommt in Wellen und wir können nur eins tun: mitschwingen. Verlustangst, Einsamkeit und Überforderung sind Gefühle gegen die man nur sehr schwer angehen kann, wenn man in der aktiven Trauerphase ist. Ich beginne dann zu meditieren. Es hilft mir wieder in meine Mitte zu kommen. Aber auch ein Gebet ist hilfreich. Es tröstet. Irgendwie ganz tief drinnen spürt man auch, wie eine neue Kraft hochkommt, die hilft den Trauerdrachen in seine Höhle zu schicken.
Ich erlaube mir schwach zu sein und zu weinen. Das war nicht immer so. Viele haben dieses „tough sein“ mit emotionaler Kälte gleichgesetzt und gar nicht verstanden, wie tief meine Trauer eigentlich ging. Nur in meinem engsten Kreis wissen die Menschen, wie es mir wirklich ging und ergeht, weil es ein sehr persönliches und privates Gefühl ist.
Auf der anderen Seite erlaube ich mir auch dieses Leben mit all seinen Facetten bewusst und vollkommen glücklich zu erleben. Denn Trauer bedeutet nicht, dass wir für immer von der Freude ausgeschlossen sind. Vielmehr ist die Lebensaufgabe trotz aller Trauer wieder eine Form des Glücks empfinden zu dürfen.
Das Gute ist, ich habe gelernt mit meiner Trauer und den Stimmungsschwankungen zu leben. Sie sind ein Teil von mir. Ich bin dankbar, dass ich diese intensiven Emotionen erleben darf und durfte. Es gehört zu einem vollständigen Menschsein dazu, dass wir die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen kennenlernen dürfen. Dafür sind wir hierher gekommen. Den Drachen der Trauer habe ich akzeptiert und nur manchmal, so wie heute, dann kommt er wieder zum Vorschein. Und dann habe ich liebe Freunde um mich herum, die mir durch Worte und Gesten zeigen, dass sie von ihm wissen – meinem persönlichen Kampf mit dem Drachen. Dann kann ich sogar auf meinem Drachen reiten und hinter ihm hervor blinzeln… die Traurigkeit ist da, aber es gibt auch das Lächeln.
Als Medium muss man durch diese dunklen, inneren Wälder gegangen sein und diesen Schmerz kennen. Nur, wenn man diese Form der Emotion überlebt hat, dann kann man den Schmerz eines Anderen wahrhaft verstehen. Das gehört neben allen Talenten und mitgebrachten Fähigkeiten mit zu einem Menschen, der spirituell arbeitet und andere Menschen dort abholen möchte, wo sie noch gefangen sind und ihnen wieder ein Lächeln zu entlocken!
Mein persönliches Lieblingslied ist „Smile“ von Charles Chaplin aus „Modern Times“ von 1936. Es ist bitter-süß und es erinnert mich immer daran, dass das Leben auch zum Lächeln ist und nicht nur zum Weinen.
Wenn Jemand sagt, dass die Zeit die Trauer heilen könne, dann stimmt das für mich und ganz viele Menschen nicht. Aber sie hilft uns weiterzumachen und wir lernen den Schmerz auszuhalten.
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